Agrarpolitik mit Jakob Kern: «Die Ukraine sitzt auf 25 Mio Tonnen Getreide»
Eigentlich wäre genug Essen für alle da. Wenn die Logistik funktionieren würde. Das tut sie aber nicht. Und das verschlimmert die Folgen des Krieges in der Ukraine – auch für das World Food Programme.
16. Juli 2022 | Staffel 6, Folge 3
👋 Guten Morgen und willkommen zur nächsten Folge Agrarpolitik – der Podcast ✨
Heute gehen wir der Frage nach, wie der Krieg in der Ukraine die humanitäre Nothilfe beeinflusst. Unser Gesprächspartner: Jakob Kern, Vize-Stabschef vom World Food Programme WFP der Vereinten Nationen.
Kern leitete von März bis Mai die Notfall-Koordination des WFP in der Ukraine. Jetzt arbeitet er wieder am WFP-Hauptsitz in Rom. Er erklärt, dass die hohen Rohstoffpreise die Beschaffung für das WFP verteuern. In der Folge muss die Nothilfe für 4 Millionen Menschen eingeschränkt werden
.Im Podcast hören Sie mehr zu den Hintergründen, unten finden Sie die wichtigsten Aussagen.
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«Die Ukraine sitzt auf 25 Millionen Tonnen Getreide»
Die Ukraine ist einer der grössten Exporteure von Weizen, Mais, Sonnenblumenöl und Gerste. «Das alleine hat aber nicht zur Unsicherheit geführt», sagt Jakob Kern.
«Vielmehr ist die Preiserhöhung psychologisch bedingt. Weil die Exporte aus der Schwarzmeerregion blockiert sind, haben viele Länder ihre eigenen Exporte gestoppt damit sie ihre Reserven schützen können. Und das hat die Länder besonders hart getroffen, die von ukrainischem Weizen abhängig waren.» fügt Kern an. Diese Länder müssen ihre Ware nun andernorts einkaufen und aufgrund der längeren Transportdistanzen und -kosten mehr dafür bezahlen.

Das Problem dabei ist: «Die Ukraine sitzt momentan auf etwa 25 Mio. Tonnen Getreide und die Ernte wird mit 30 Mio. Tonnen erwartet. Aber die Lagerkapazität ist geringer.»
Wie Jakob Kern sagt, werden potenziell 15 Mio. Tonnen Getreide geerntet, ohne dass dafür Lagerplatz vorhanden ist. Exportiert werden solche Mengen ausschliesslich auf dem Seeweg. Aber: «die Häfen in Odessa, die normalerweise pro Woche 1,5 bis 1,7 Mio. t Getreide exportieren, sind im Moment nicht verfügbar.» Grund dafür sind versenkte Schiffe und Minen, die sowohl von Russland als auch von der Ukraine gelegt wurden.
Der einzige Weg führt mit dem Lastwagen oder der Eisenbahn nach Rumänien und via die Donau und Europa in die grossen Abnehmerregionen Nahost und Afrika . «Der beste Plan, den die Regierung hat, sind 1,5 Mio. Tonnen Getreide im Monat, nicht pro Woche. Und das entspricht immer noch 1000 Eisenbahnwagen pro Tag. Das geht nicht.», sagt Jakob Kern. Ausserdem steigen die Exportkosten um 100 USD je Tonne (wobei das noch das kleinere Problem darstellt).
2022 ist schon schwierig, 2023 könnte noch schwieriger werden
Durch die Covid-Pandemie hat sich die wirtschaftliche Lage der Ärmsten verschlechtert, sie konnten sich weniger Lebensmittel leisten. Durch den Ukraine-Krieg sind die Preise für Grundnahrungsmittel zusätzlich noch schlagartig gestiegen. «Wenn man 80 Prozent des Einkommens für Grundnahrungsmittel ausgeben muss, dann ist ein Preisanstieg genau die Grenze zwischen genug zu Essen und Hunger», sagt deshalb Jakob Kern.
Wie Kern präzisiert, ist die Ernährungssicherheit für einige Millionen Menschen akut gefährdet; «das heisst verhungern oder nicht verhungern.» Durch die jüngsten Preissteigerungen alleine wird ausserdem die Ernährungssicherheit von rund 250 bis 300 Millionen Menschen zusätzlich gefährdet. Ohne externe Hilfe kann für sie die Ernährungssicherheit in den nächsten sechs bis zwölf Monaten nicht gewährleistet werden. Das World Food Programme schreibt deshalb, dass 2022 für die globale Ernährungssicherheit ein schlechtes Jahr ist. Aber 2023 könnte noch viel schwieriger werden. Grund dafür sind zwei Entwicklungen:
Erstens droht die Ukraine in eine Abwärtsspirale zu geraten. Denn «wenn die Bauern die diesjährige Ernte nicht verkaufen können, dann fehlt das Geld für Saatgut und Dünger für die nächste Ernte», sagt Kern. «Aber nächstes Jahr sehen wir, dass viele Felder brachliegen, weil die Bauern kein Geld und keine Motivation haben dürften, um sie zu bepflanzen.»
Zweitens führen konstant hohe Preise auf globaler Ebene zur Nachfragesteigerungen bei Substitutionsprodukten. «Im Südsudan haben wir beobachtet, dass der Preis für Sorghum in die Höhe geschnellt ist, weil der Weizenpreis hoch ist.» Ausserdem haben die Treibstoffpreise einen direkten Einfluss auf alle Länder, die Lebensmittel importieren, «weil es die Transportkosten erhöht.»
Teurere Beschaffung heisst weniger Hilfe
Die Konsequenzen für das WFP sind gravierend. «Wir bezahlen im Moment pro Monat 70 Mio USD mehr, um die gleiche Menge zu kaufen. Das heisst, wir können 4 Millionen Menschen im Jemen, in Afghanistan, Sudan, Äthiopien nicht mehr länger unterstützen.» Der Entscheid, wer von der Lebensmittelhilfe nicht mehr profitieren kann, obliegt den jeweiligen Länderdirektoren. «Das ist einer der schwierigsten Aufgaben unserer Leute im Feld», sagt Jakob Kern. Die betroffenen Menschen müssen hungern oder flüchten um dem Hungertod zu entkommen.
Der Beitrag der Schweiz ist auf dem diplomatischen Parkett von Bedeutung
Wie Kern sagt, muss jedes Land selbst entscheiden, wie es die Ernährungssicherheit gewährleistet. Strategische Reserven könne man ankaufen oder selbst produzieren. «Aber ich glaube, in der Schweiz ist der Preisdruck noch nicht so hoch, dass die Lebensmittel teurer werden. Ich denke der Druck ist viel eher auf den Treibstoffpreisen als auf den Brotpreisen – und das wird sich in Zukunft kaum ändern». Kern sieht deshalb den Beitrag der Schweiz auf dem diplomatischen Parkett und in der humanitären Hilfe. «Die Schweiz kann viel eher mit diplomatischen Beziehungen und humanitärer Hilfe zur Beruhigung der Situation beitragen, als jetzt Weizen anzubauen.»
Lebensmittelhilfe ist auf zusätzliche Gelder angewiesen
Wie Jakob Kern weiter ausführt, gehört die Schweiz mit knapp 100 Mio. Franken pro Jahr zu den 15 grössten Gebern (siehe auch hier). Wie Kern sagt, hat die USA im Zuge der Preissteigerungen in der vergangenen Woche dem WFP 1,2 Mrd. USD zusätzlich zur Verfügung gestellt. «Es wäre natürlich schön, wenn die Schweiz dem Beispiel der USA folgt.»
Für die nächsten Monate wünscht sich Kern Waffenstillstand, die Wiedereröffnung der Häfen und dann sinkende Weizenpreise – «Damit es für die ärmsten der Armen wieder erschwinglich ist, Brot zu kaufen.»
Soviel für den Moment von uns 🙏. Danke fürs Interesse und schönes Wochenende👋.
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